Die multimediale Zeitreise

multimediale Zeitreise

1980 — 1990

Beitrag Nr. 01


BEITRAG VON DR. ANNINA SANDMEIER-WALT

Zahlbare «Wo-Wo-Wonige»

Anfang der 1980er-Jahre brodelte es in Zürich. Die Jugend artikulierte Forderungen an Politik und Gesellschaft. Eine davon war erschwinglicher Wohnraum. Abseits von Krawall und Repression entstand im Sommer 1983 schliesslich mit der Jugendwohnhilfe ein Verein, der diesem erkannten Notstand Abhilfe schaffen wollte.

«Züri brännt» und «Wo-Wo-Wonige» waren Slogans der Zürcher Jugendbewegung der 1980er-Jahre, die noch heute die Sicht auf die damaligen Geschehnisse prägen. Viele Bilder, die in den Archiven zum Stichwort Jugendbewegung aufbewahrt werden, zeigen eine aufgebrachte Jugend, die mit Demonstrationen ihren Forderungen zum Durchbruch verhelfen wollten. Zwei Aspekte standen dabei im Vordergrund: Einerseits bemängelten die Demonstrierenden fehlende kulturelle Freiräume andererseits den knappen und teuren Wohnraum.

FILM: Finanzvorsteher Max Koller

Zu sehen ist CVP-Stadtrat und Finanzvorsteher Max Koller.
Sein Spruch über die «amöbenhaften Gruppen» ist bekannt geworden.

FILM: Opernhauskrawalle

Bilder vom sogenannten «Opernhauskrawall».

Filmausschnitte aus dem Film «Züri brännt» zu den Jugendunruhen 1980. / Film: © Videoladen VZ

In Sachen Wohnraum gab es tatsächlich viel zu tun: Um 1980 hatte der Leerwohnungsbestand in der Stadt einen Tiefpunkt erreicht. Der Markt war ausgetrocknet, junge Menschen konnten sich die eigenen vier Wände schlicht kaum leisten. Dazu kamen aber auch gesellschaftspolitische Gründe, da Konkubinat und kollektives Wohnen sich zwar in den 1970er-Jahren etabliert hatten, doch als alternative Wohnformen oft noch immer auf Skepsis stiessen. So vermieteten viele subventionierte Genossenschaften grundsätzlich nicht an unverheiratete Paare. Den Protestierenden ging es also nicht allein um die Bezahlbarkeit des Wohnraums, sondern auch darum, selbstbestimmt leben zu können und unabhängig zu werden. In konservativen Kreisen kursierten noch immer Vorstellungen, dass die vorhandenen Heime für Studentinnen und Studenten genügten und auf sogenannte «Schlummermütter» zurückgegriffen werden könne.


Ansprüche prallen aufeinander

Wohnungsnot für Personen in Ausbildung war in Zürich Anfang der 1980er-Jahre kein neues Phänomen. Für Studentinnen und Studenten sorgte die WOKO (Wohnbaukommission beider Studentenschaften) seit 1956 für eine bezahlbare Behausung. Doch war es neu, dass sich die Forderungen nach Wohnraum derart lautstark und mit einer Anspruchshaltung äusserten. Die Zahl von Demonstrationen und Hausbesetzungen schnellte ab Frühjahr 1980 in die Höhe und hielt die Stadt fast zwei Jahre in Atem. Personen aus Politik und Gesellschaft standen dem Treiben zuweilen hilflos gegenüber. Die einzige Antwort auf das, was in den Augen vieler Krawall war, schien Repression. So wurden Hausbesetzungen meist nach wenigen Tagen aufgelöst und Demos zuweilen in Tränengas erstickt. Die Fronten schienen verhärtet.

«Teil des Problems war auch die damalige Einstellung der Liegenschaftenbesitzer: Diese zogen es vor, nicht an Jugendliche zu vermieten, denn wer will schon dauernden Wechsel von Mietern und Vertragspartnern, womöglich noch Klagen der anderen Hausbewohner wegen lauter Musik, Unordnung usw.?», meinte Sigi Feigel, Jurist und Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Er war erschüttert über die Intensität, mit der die Jugend ihre Nöte kundtat.

Bild: Jugendbewegung 1980

«Jugendbewegung Limmatstrasse», Zürich

12.07.1980

Auf der Strasse Müllcontainer und Wasserwerfer.

Bild: Schweizerisches Sozialarchiv,
F 5107-Na-10-059-029
Foto: Gertrud Vogler

Bild: Wohnungsnot Aktion Müllerstrasse

«Wohnungsnot Aktion Müllerstrasse - Heilsarmee», Zürich

21.09.1984

Aktivisten demonstrieren mit Matratzen auf dem Helvetiaplatz, unmittelbar vor den Büros des Sozialdepartements und von Sozialvorsteherin Emilie Lieberherr.

Bild: Schweizerisches Sozialarchiv,
F 5107-Na-11-011-017
Foto: Gertrud Vogler

Bild: Aktion Wohnungsnot Werdplatz, Sept. 1980

«Aktion Wohnungsnot Werdplatz», Zürich

September 1980

Transparent am Werdplatz vor dem Denkmal «Befreiung»: «d'Lügeschaftverwaltig verdient nüme [...] eus sind kei Wonige [...]».

Bild: Schweizerisches Sozialarchiv,
F 5107-Na-11-148-029
Foto: Gertrud Vogler


Geburtsstunde 1983 dank Sigi Feigel

«Jugendliche hatten die allergrösste Mühe, erschwingliche Wohnungen zu finden», bestätigte Feigel rückblickend. Er wurde zu einer der treibenden Personen bei der Linderung der Wohnungsnot. «Hier sah ich eine Chance für eine Organisation wie unsere.»

Am 4. Juli 1983 schliesslich war es so weit: Eine Gruppe um Sigi Feigel gründete den Verein für Jugendwohnhilfe. Sein Zweck war es, jungen Menschen mit knappem Budget Wohnraum in der Stadt Zürich zu verschaffen. Bereits ab 1981 hatten Gespräche über eine Gründung stattgefunden. Feigel war klar, dass er alle wichtigen Akteure an einen Tisch bringen musste für eine erfolgreiche und nachhaltige Lösung des Problems. Politische Parteien von SP bis SVP, die grossen Landeskirchen sowie die Israelitische Cultusgemeinde, Delegierte von Stadtrat und Frauenzentrale – sie alle beteiligten sich an einem Arbeitskreis. Auch Medienschaffende verschiedener Zürcher Tages- und Wochenzeitungen sowie Radio DRS waren geladen.

Sigi Feigel spricht in einem Interview für den Sonntagsblick über die Jugendunruhen zu Beginn der 1980er-Jahre.

Archiv für Zeitgeschichte: NL Sigi Feigel / 10, © Ringier AG
Foto: Sasha Portmann


«Junge» und «Alte» arbeiten parallel

Die Umsetzung des Vorhabens – also konkret festzulegen, wer unter welchen Bedingungen zu einem Mietverhältnis berechtigt sein sollte – wollten die etablierten Kräfte in jüngere Hände legen und ermutigten sie, auch «unkonventionelle Lösungsvorschläge» ins Auge zu fassen. Dieser zweite Arbeitskreis, an dem Mitglieder der Jungparteien und Landeskirchen aber auch Delegierte der WOKO und von Pro Juventute beteiligt waren, nahm unter dem Vorsitz des Juristen Daniel Gundelfinger 1981 seine Arbeit auf.

Nach zwölf intensiven Sitzungen, die jeweils im Gemeindezentrum der Israelischen Cultusgemeinde stattfanden, lagen dem ersten Arbeitskreis die Entwürfe für die Vereinsstatuten, das Berechtigungsreglement und das Wohnungsbewertungssystem vor. Die Verhandlungen waren nicht reibungsfrei abgelaufen, zu unterschiedlich waren die Vorstellungen. Welche Personen waren zur Miete berechtigt, wie alt mussten sie sein? Was waren angemessene Mietzinsen? Doch die Mitglieder rauften sich jeweils zusammen und schmiedeten im Rahmen des juristisch Möglichen Kompromisse.

Gundelfinger erinnert sich, dass der Austausch der beiden Arbeitskreise primär über ihn und Sigi Feigel stattfand. «Die Alten nahmen wir kaum wahr.» Denn die Arbeitsteilung war klar: Während die «Jungen» die Papiere zur Arbeitsweise der zukünftigen Jugendwohnhilfe erstellten, musste der erste Arbeitskreis Wohnungen beschaffen und die Sache politisch geschickt abstützen. Denn die Umsetzung kostete die öffentliche Hand Geld, da die Wohnungen zu subventionierten Preisen angeboten werden sollten.

1983 startet JUWO offiziell

Der Verein für Jugendwohnhilfe hatte zweierlei Aufgaben:

Zum einen vermittelte er jungen Menschen günstigen Wohnraum, musste zum anderen aber auch die finanziellen Mittel dafür beschaffen. In der Öffentlichkeit standen primär die «Alten», die wegen ihrer Seniorität Vertrauen mit den Vermieterinnen und Vermietern aufbauen konnten. Hier spielte wiederum Sigi Feigel eine zentrale Rolle. «Seine Zielstrebigkeit und seine Fähigkeit zur Diplomatie und Vermittlung machten die Gründung überhaupt erst möglich», meint Benedikt Gschwind, der 25 Jahre im Vorstand als Quästor mitwirkte und zu den Mitbegründern von JUWO zählt. «Er war weitum geschätzt, weil er versucht hat fair zu sein», sagt auch Daniel Gundelfinger. «Er war ein Dynamiker, ein Energiebündel.»

Und letztlich gehörte wohl ein grundlegender Optimismus zur Sache dazu, denn Sigi Feigel war der Überzeugung: «Die Jugendlichen sind sicher besser als ihr Ruf.» Der Vereinsvorstand der Jugendwohnhilfe, den er schliesslich auch präsidierte, blieb geprägt von seiner Persönlichkeit.

Das Engagement von Sigi Feigel wird im JUWO noch immer hochgeschätzt. Wohl für die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft 1999 wurde diese Karikatur angefertigt.

Bild: Archiv JUWO, Urheber unbekannt


Zwei Vereine kümmern sich

Feigel war nicht der einzige, der das Problem am Wohnungsmarkt erkannt hatte. Bereits 1982 war der Verein Zürcher Jugendwohnungen gegründet worden, der auch Wohnungen für Jugendliche ohne geregeltes Einkommen anbot. Wer es brauchte, erhielt zudem Beratung in sozialen Fragen. Anders die Jugendwohnhilfe, die sich vorerst an junge Menschen mit einem niedrigen, aber regelmässigen Einkommen richtete. Erste Wohnungen zur Vermietung standen der Jugendwohnhilfe ab Oktober 1983 zur Verfügung.

Doch blieb die Arbeit der Vereine nicht unkritisiert. Gerade in der Szene von Hausbesetzungen wurde den Vereinen vorgeworfen, spekulierende Personen im Immobilienmarkt zu unterstützen, weil Liegenschaften bis zuletzt verwertbar waren. Zu den vermieteten Objekten gehörten auch Wohnungen von Abbruchliegenschaften, die so eine temporäre letzte Verwendung fanden. Bemängelt wurden ausserdem die verminderten Rechte von Mieterinnen durch ihren Status als Untermieter. Diese Zwiespältigkeit war den Vereinen durchaus bewusst. Auch wenn nicht explizit so kommuniziert, wollte die Jugendwohnhilfe durch ihre Arbeit Hausbesetzungen verhindern.

Ein ehrgeiziges Ziel

Generell aber hatte die Arbeit der zwei Vereine eine wohlwollende Presse. Und es zeigte sich bereits in den ersten Jahren, dass das Angebot auf viel Nachfrage stiess. Bald hatte die Jugendwohnhilfe ein Vielfaches an Bewerbungen gegenüber ihren Angeboten zu bewältigen. Ursprünglich waren die Ziele der Jugendwohnhilfe ehrgeizig, wie Vorlagen für Presseberichte zeigen:

«Jedes Jahr sollten mindestens 20 Wohnungen hinzukommen. 
100 Wohnungen lautet das Ziel für die Verwirklichung des Pilotprojektes.
Längerfristig möchte der Verein 1000 Wohnungen beschaffen.»

So war die Arbeit der Jugendwohnhilfe als Zwischenakteurin von Vermietung und Mieterinnen und Mietern gestartet. Sie konnte Berührungsängste abbauen und pragmatisch Abhilfe schaffen. «Es ist beispielhaft, wie in einer politisch aufgeladenen Zeit wie den 1980er-Jahren pragmatische Hilfe möglich war – dies hätte die institutionelle Politik alleine nicht leisten können», sagt der ehemalige Quästor Benedikt Geschwind.