Die multimediale Zeitreise

multimediale Zeitreise

1980 — 1990

Beitrag Nr. 04


BEITRAG VON BENEDIKT GSCHWIND

Vor 40 Jahren hatte das Wohnen in einer WG etwas Anrüchiges

Benedikt Gschwind, Mitbegründer und langjähriges Vorstandsmitglied des JUWO, erinnert sich an den Start und die ersten Jahre der Jugendwohnhilfe.

Ich mag mich noch gut erinnern. Es war im September 1981. Sigi Feigel, der stadtbekannte Rechtsanwalt und damalige Präsident der Israelitischen Cultusgemeinde (ICZ) hatte alle städtischen Parteien mit ihren Jugendorganisationen, die Landeskirchen, Vertreter der Stadtverwaltung und einige Medienvertreter:innen zu einem Mittagessen ins Gemeindezentrum der ICZ an der Lavaterstrasse eingeladen. Feigel wollte ausloten, ob es einen Konsens dazu gab, einen konkreten Beitrag für mehr Wohnungen für Jugendliche in der Stadt Zürich bereitzustellen.

Er wollte keine theoretischen Diskussionen, ob es sich dabei um eine berechtigte oder weniger berechtigte Forderung handelte, sondern einen konkreten Beitrag zur Lösung entwickeln. Und klug wie er war, wollte er alle massgebenden politischen Kräfte einbinden, damit nicht hinterher eine Partei ausscheren und opponieren konnte.

Auszug aus dem Zeitzeugengespräch, Februar 2022 / Jean-Marc Hensch

Benedikt Gschwind nahm ab 1981 als Vertreter des damaligen Jungen Landesrings der Unabhängigen (LdU) an den Gesprächen zur Gründung des Vereins für Jugendwohnhilfe – der Vorgängerorganisation des JUWO – teil. Der Betriebsökonom war danach bis 2005 Vorstandsmitglied und Quästor des JUWO.

Seit der Auflösung des LdU Ende 1999 politisiert er für die SP und gehörte bis 2019 dem Zürcher Kantonsrat an. Er ist heute 60 Jahre alt, verheiratet und wohnt in Zürich-Wipkingen.


Gerüchte um WGs

Wir müssen uns in die damalige Zeit versetzen. Wohnen in einer WG war damals keineswegs gesellschaftlich breit akzeptiert. Vergessen wir nicht, erst 1972 war das Konkubinatsverbot im Kanton Zürich gefallen. Immerhin konnten so unverheiratete Paare zusammenwohnen. Aber Jugendliche in einer WG? Man sprach dann rasch von «Kommune», die bürgerlichen Vorstellungen widersprach, insbesondere wenn junge Männer und Frauen in Gruppen zusammenlebten und vielleicht gar politisch aktiv waren. Befürchtet wurden mangelnder Ordnungssinn, Lärm oder gar Drogenkonsum. Es waren meistens diffuse Ängste. Gewiss gab es WGs, in denen nicht alles reibungslos funktionierte, aber dies waren Einzelfälle.


Zähe Verhandlungen bis zur Gründung 1983

Der minimale Konsens nach dem ersten Treffen bei der ICZ war, dass man wieder zusammenkommen und das Projekt weiterentwickeln wollte. Die geschilderten diffusen Ängste waren in diesen Diskussionen aber immer wieder hörbar. Andrerseits konnten die vor allem jüngeren Vertreterinnen und Vertreter darauf hinweisen, dass Zürich mit Universität, ETH und weiteren überregionalen Bildungsstätten viele Studierende und Lernende aus anderen Landesgegenden hat, die nun mal eine zahlbare Bleibe benötigen. Und so näherte man sich langsam an, man definierte die Voraussetzungen für die Aufnahme. Insbesondere die Alterslimite (ab 16, 18 oder etwa gar erst ab 20 Jahren) und die Frage, ob nur Auswärtige oder auch Zürcher:innen in eine WG ziehen dürfen, waren umstritten.

Es war dem diplomatischen Geschick von Sigi Feigel zu verdanken, dass schliesslich alle Parteien, ihre Jugendorganisationen und die Kirchen bereit waren, die Trägerschaft für diesen neuen Verein zu bilden. Im damals wie heute sehr polarisierten Zürich ist dies kaum vorstellbar.

Auszug GB 1999

Auszug aus dem Geschäftsbericht 1999,
Verein und Stiftung für Jugendwohnhilfe


Jugendwohnhilfe etabliert sich

Nach dem internen Konsens über Statuten und Vermietungsreglement musste die Überzeugungsarbeit bei potenziellen Vermietungspartnern fortgesetzt werden. Immerhin gab es dann 1983 die ersten Wohnungen der städtischen Liegenschaftenverwaltung, die wir an jugendliche Wohngemeinschaften vermieten konnten. Bei den Genossenschaften stiessen wir jedoch lange auf taube Ohren. Man spürte eine ablehnende Grundhaltung gegenüber der Wohnform WG und die Genossenschaften verwiesen auf ihre Vermietungsbestimmungen, die grössere Wohnungen Familien mit Kindern vorbehielten. Meistens war es dann so: Wenn private Vermietungspartner einmal gute Erfahrungen mit der Weitergabe einer Wohnung an die Jugendwohnhilfe gemacht hatten, folgten bald weitere. Der Tatbeweis, dass eine WG funktionieren kann, war die beste Referenz.

Insbesondere war die Jugendwohnhilfe schon bald eine interessante Partnerin für befristete Verträge bei Objekten, die vor einem Abriss oder Umbau standen. Denn die heutigen professionellen Anbieter für Zwischennutzungen gab es noch nicht. Da die jungen Leute in Ausbildung meistens semesterweise planten, waren solche Zwischennutzungen für uns ideale Angebote. Die damaligen Geschäftsführer:innen der Jugendwohnhilfe haben die WGs zum Teil selber zusammengestellt und sich überlegt, wer wie zusammenpasste.


Sigi Feigel war zentrale Persönlichkeit

Sigi Feigels Engagement kann man nicht genug würdigen. Von der Gründung bis ins Jahr 2000 präsidierte er den Verein. Er hielt mit seiner Mischung von Charme und Zielstrebigkeit die Organisation zusammen, bot in seiner Kanzlei an der Schweizergasse die Räume für die erste Geschäftsstelle an und war ein wichtiger Botschafter bei Vermietungspartnern. Die Tradition mit den Arbeitssitzungen über Mittag im Gemeindezentrum der ICZ wurde übrigens während seiner ganzen Präsidialzeit fortgesetzt. Der Vorstand traf sich über Mittag, besprach und entschied die Geschäfte und ass dazwischen das offerierte Mittagessen, was die Stimmung immer wieder entspannte.

Schliesslich erinnere ich mich, wie ich zusammen mit Sigi Feigel etwa 1990 vor den Gemeindepräsidenten des Bezirks Uster für Wohnungen aus dem Glattal warb. Wir wollten damals in die Agglomeration expandieren. Wir wurden freundlich und respektvoll empfangen, aber inhaltlich war es in diesem doch sehr konservativen Gremium sehr schwierig. Auf der Heimfahrt nach Zürich wurde uns klar, dass wir uns nun zwar in Zürich etabliert hatten, ausserhalb der Stadt aber noch viel Überzeugungsarbeit nötig war. Mit unserem Auftritt vor den Gemeindepräsidenten haben wir immerhin einen Beitrag dazu leisten können, den Ruf der WGs zu verbessern.

Heute ist das JUWO bei der Beschaffung von neuem Wohnraum vor allem mit dem beschränkten Angebot, das heisst mit ökonomischen Herausforderungen konfrontiert. Anders vor 40 Jahren, als die Stadt Zürich noch Einwohner:innen an die Agglomeration verlor und die Zahl der Wohnungen trotzdem immer noch wuchs. Es hätte also durchaus preisgünstigen Wohnraum gehabt. Aber die Vermietung an WGs war bei vielen Vermieter:innen gesellschaftlich nicht gewünscht.