1980 — 1990
Beitrag Nr. 05
BEITRAG VON NADINE ZBERG, HISTORIKERIN UND DOKTORANDIN AN DER UNIVERSITÄT ZÜRICH
Nicht nur junge Menschen litten unter dem Mangel an leeren und bezahlbaren Wohnungen. Seit über 80 Jahren beschäftigt das Thema Wohnungsnot die Zürcher:innen. Als in den 1980er-Jahren Jugendliche besonders davon betroffen waren, wehrten sie sich lautstark und medienwirksam. Die Gründung der Jugendwohnhilfe und des Vereins Zürcher Jugendwohnungen ist eine Folge davon.
Die berüchtigte Zürcher Wohnungsnot – Alteingesessene und Neuzuziehende können davon gleichermassen ein Lied singen. Und das nicht erst seit gestern: Seit 1942 hat die Leerwohnungsziffer in der Stadt Zürich nie mehr als ein Prozent erreicht. Das ist die Grenze, unterhalb derer gemeinhin von einer Wohnungsnot gesprochen wird. Verändert haben sich über die Jahrzehnte hinweg aber nicht nur ihre Ursachen, sondern auch das soziale Profil jener, die in dieser Situation am meisten Mühe haben, eine Wohnung zu finden, sowie die Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit.
In der Zeit des Zweiten Weltkriegs war die Situation in der ganzen Schweiz dramatisch: Der kriegsbedingte Mangel an Baumaterial und die wachsende Bevölkerung hatten in den frühen 1940er-Jahren zu einer extremen Wohnungsnot geführt. Neben der grassierenden Obdachlosigkeit von Alleinstehenden, vor allem Männern, waren auch zahlreiche ärmere Familien von der Wohnungslosigkeit betroffen. Mangels besserer Alternativen quartierte die Stadt Zürich diese sogar in Schulzimmern ein – während des regulären Schulbetriebs.
Das Kriegsende brachte keine Entspannung. In der Ära von Hochkonjunktur und Babyboom wuchs nicht nur die Bevölkerung – auch die Ansprüche an Wohnfläche und -komfort stiegen. Wohnraum blieb daher knapp. Wer es sich leisten konnte – und das waren die vielen neuen Mittelschichtsfamilien – zog in die neu gebauten Wohnsiedlungen in der Agglomeration. Zurück in der Stadt blieben die weniger Bemittelten. Familien, Betagte und Invalide, die hier kein Obdach fanden, konnten sich seit 1946 an das städtische Büro für Notwohnungen wenden. Dieses vermittelte Wohnungen in baufälligen städtischen oder privaten Liegenschaften an Bedürftige, die dort jeweils bis zum Hausabbruch vorübergehend unterkommen konnten. Die Nachfrage überstieg das Angebot an Notwohnungen jedoch massiv. Stets gefüllt waren daher auch die Barackensiedlungen für obdachlose Familien, die die Stadt nach Kriegsende am Bucheggplatz und in Altstetten erstellt hatte.
Auch der Film «Es Dach überem Chopf» (CH 1962) nahm das Thema Notwohnungen auf: Mit den Caduffs stellte Kurt Früh eine Familie, die in einer städtischen Barackensiedlung wohnte, ins Zentrum eines seiner beliebten Spielfilme.
Um die soziale Misere, die in den Notwohnungen und Barackensiedlungen herrschte, entbrannte in den 1960er-Jahren eine mediale Debatte: Das Schweizer Fernsehen porträtierte eine «Bidonville » am Stadtrand Zürichs, wo eine grössere Gruppe Obdachloser – darunter Familien mit kleinen Kindern – in Wohnwagen ohne fliessendes Wasser und sanitäre Einrichtungen auf einer schlammigen Brache «im Schatten der modernsten Brücke Zürichs» (der Europabrücke) lebte. In den Notwohnungen sah es nur wenig besser aus: Die dort herrschenden desolaten wohnhygienischen Verhältnisse rückte ein weiterer Fernseh-Beitrag ins Bild. Der zuständige Stadtrat Max Koller (CVP) zeigte sich zwar zerknirscht ob der Zustände, spekulierte aber, dass viele der Notwohnungsbewohnenden wohl ganz zufrieden mit ihrer Bleibe seien, da sie sich sonst ja stärker darum bemühen würden, eine richtige Wohnung zu finden. Zum Zeitpunkt dieses lapidaren Kommentars des damaligen Finanzvorstehers hatte der Leerwohnungsbestand in Zürich gerade seinen historischen Tiefststand erreicht: 1970 waren am Stichtag gerade mal vier Wohnungen in der ganzen Stadt frei.
Die erste Hausbesetzung in Zürich 1971 an der Venedigstrasse richtete sich gegen den Abriss von günstigem Wohnraum in der Innenstadt zugunsten von Büroneubauten.
Bild: unbekannt/Signatur: Sozarch_F_5038-Fb-0013
Als die Konjunktur ab Mitte der 1970er-Jahre wieder anzog und der Hunger des Dienstleistungssektors wieder wuchs, wurde Wohnraum in der Stadt erneut rar. – Damit erschwerte sich die Wohnungssuche insbesondere für die ungern gesehenen WGs. Nun waren es erstmals nicht nur Arme und sozial Randständige, also Gruppen, die gesellschaftlich tendenziell unsichtbar bleiben, denen Wohnungslosigkeit drohte. Die junge WG-Szene entstammte allen gesellschaftlichen Schichten, war politisiert und trat entsprechend selbstbewusst für ihre Interessen ein. Sie überrannte die städtische Liegenschaftsverwaltung förmlich mit hunderten von Wohnungsforderungen. Mit einer Welle von Hausbesetzungen verschafften die Jugendlichen sich eigenmächtig den dringend benötigten Wohnraum und verliehen während der Jugendbewegung der 1980er-Jahre ihrem Anliegen auf der Strasse Nachdruck (JUWO History-Blog Beitrag 1).
Und sie machten die Medien zum Kampfplatz: So liessen sich Aktivist:innen beispielsweise beim «symbolischen Renovieren» einer leerstehenden kantonalen Liegenschaft medienwirksam verhaften. Andere gelangten mit ihren Wohnungsforderungen direkt an den Stadtrat und hielten die Öffentlichkeit mit Pressekonferenzen über den Stand der Verhandlungen auf dem Laufenden. So tat es etwa mit Erfolg die Gruppe «Mieternot»: Im Frühling 1980 erhielt sie von der Stadt grünes Licht für den Einzug in die leerstehende Liegenschaft an der Sihlamtstrasse 15/17. Eine Zeitlang als Notwohnungen vermietet, waren die beiden Häuser von der Stadt zuvor für unbewohnbar erklärt worden und sollten bald abgebrochen werden. «Mieternot» renovierte die Wohnungen selbst und durfte dafür die Materialkosten vom Mietzins abziehen. Die beiden Häuser blieben letztlich stehen: 1988 übernahm sie die Jugendwohnhilfe und heute wohnen im renovierten Altbau angehende Ärzt:innen (JUWO History-Blog Beitrag 2).
Der auf maximale Sichtbarkeit ausgelegte Aktivismus der Jugendlichen blieb nicht ohne Wirkung: Mehrere politische Vorstösse bewirkten in der Folge eine Öffnung der städtischen Institutionen für Wohngemeinschaften, private Initiativen wie die Jugendwohnhilfe entstanden und langsam setzte sich in der Gesellschaft eine breitere Akzeptanz von unterschiedlichen Wohnbedürfnissen und Lebensstilen durch.
Aus Protest gegen die Wohnungsnot errichteten junge Aktivist:innen während der 80er-Bewegung improvisierte Hüttensiedlungen auf öffentlichem Grund
Bild: Fries, Michel/Signatur: Sozarch_F_5111-059-006
Nachdem die 1990er-Jahre eine leichte Entspannung gebracht hatten, ist es in den letzten zehn Jahren wieder sehr schwierig geworden, eine günstige Wohnung zu finden: Wohnen in der Stadt ist wieder beliebt und in der Folge hat die Finanzbranche Mietwohnungen als Anlageobjekte entdeckt. Eine «Optimierung» der Rendite wird dabei durch eine Erhöhung der Ausnützung und die geeignete zahlungskräftige Mieter:innenschaft angestrebt. Um dieses Ziel zu erreichen, hat sich die Immobilienwirtschaft die hehre Aufgabe der Bekämpfung der «Wohnungsnot» auf die Fahne geschrieben: Von der offiziellen Stadtentwicklung unter dem Schlagwort «Verdichtung» sanktioniert, werden aktuell viele ältere Siedlungen mit günstigen Wohnungen abgerissen und durch höhere und dichtere Überbauungen ersetzt, die sich mit dem Versprechen von «zeitgemässem Wohnkomfort» an die obere Mittelschicht richten. Für die vorherigen Bewohner:innen – vielfach ältere Menschen und solche mit kleinem Einkommen – sind sie meist unerschwinglich. Im Gegenzug zu den medialen Schlachten der 1980er-Jahre läuft ihre Verdrängung in die Peripherie (oder vorzeitig ins Altersheim) im Stillen ab.
Nadine Zberg forscht zur Geschichte der Stadtentwicklung Zürichs seit den 1950er-Jahren und der Entdeckung und Vermarktung der «urbanen Lebensqualität».
Sie wohnt zur Miete im Verdichtungs-Hotspot Altstetten und kennt die nervenaufreibende Suche nach einer bezahlbaren Wohnung in Zürich aus eigener Erfahrung.