1990 — 2003
Beitrag Nr. 06
BEITRAG VON DR. ANNINA SANDMEIER-WALT
In den 1990er-Jahren nahmen die Proteste wegen mangelndem Wohnraum ab, Häuserbesetzungen wurden seltener. Ausserdem hatten sich Wohngemeinschaften als Form des Zusammenlebens etabliert und verloren zunehmend ihren revolutionären Charakter. Dennoch gab es ab und an Besetzungen – und in einem Fall geriet die Mieterschaft der Jugendwohnhilfe zwischen die Fronten. In der Villa an der Scheideggstrasse 63 in Zürich zogen kurz nach der Räumung einer über sieben Monate dauernden Hausbesetzung im März 1990 junge Untermieter:innen der Jugendwohnhilfe ein. Die ehemaligen Besetzer:innen wollten die neuen Bewohner:innen dazu bringen, wieder auszuziehen. Ombudsmann Walter Martinet, der damals zu vermitteln versuchte, erinnert sich: «Beide Parteien sprachen Zürideutsch, doch man verstand sich nicht.»
Die Jugendwohnhilfe positionierte sich klar in Bezug auf Häuserbesetzungen: Sigi Feigel nahm 1991 im Jahresbericht Stellung zum Thema und machte deutlich, dass es sich nicht um ein «Kavaliersdelikt» handelte. Mit der Schwächung der Szene von Hausbesetzer:innen liess auch die Kritik an der Jugendwohnhilfe und dem VZJW nach. Diese Entwicklung ging einher mit dem nachhaltigen Erfolg der beiden Vereine.
Zu Beginn der 1990er-Jahre stiegen die Mieter:innenzahlen der Jugendwohnhilfe sprunghaft an, dann pendelten sich die Zahlen bei ungefähr 1000 Personen ein und stagnierten über Jahre. Die Jugendwohnhilfe verortete diesen Umstand in der Entspannung des Wohnungsmarkts Mitte der 1990er-Jahre und der andauernden Rezession. Es war für junge Menschen einfacher geworden, eine Bleibe zu finden, doch waren die Mieten oft zu teuer. Daher hielt die Nachfrage bei der Jugendwohnhilfe an, auch wenn die Warteliste inzwischen kleiner geworden war.
Auch bei den Liegenschaften machte die Jugendwohnhilfe vorwärts: 1999 konnte die Stiftung bereits die siebte Liegenschaft übernehmen, bei den gemieteten Wohnungen pendelte sich die Zahl zwischen 300 und 400 ein. Die Fluktuation blieb aber gross, wechselten doch jährlich bis zu 60 Prozent der Mieter:innen ihre Bleibe. Dies bedeutete insbesondere für die Administration in den Geschäftsstellen grosse Aufwände.
Noch im Jahr 2002 verfügten die Geschäftsstellen sowohl der Jugendwohnhilfe als auch des VZJW je nicht einmal über zwei Vollzeitstellenprozente. Die Administration wurde in Teilzeitpensen von zusammen 150 bis 160 Prozent geleistet. Der Rest der Arbeitsstunden für die Verwaltung wurde ehrenamtlich bewältigt. Die Jugendwohnhilfe erledigte einen Teil der administrativen Arbeiten zudem mit einem externen Dienstleister.
Auch die Tätigkeiten auf der Geschäftsstelle änderten sich im Lauf der Jahre. Monika Fischer, die Mitte der 1990er-Jahre bis 2003 als Geschäftsführerin amtete, erinnerte sich 1997, wie sie mit drei Stunden Arbeit pro Woche begonnen hatte. Der Arbeitsberg wuchs kontinuierlich, insbesondere als zu Beginn der 1990er-Jahre viele Wohnungen in grossen Siedlungen dazukamen, die mittelfristig renoviert werden sollten und kurzzeitig an die Jugendwohnhilfe vermietet wurden. «Während Jahren waren unsere Büros morgens von 10 bis 12 Uhr voller Jugendlicher, die sich für unsere Wohnungen anmeldeten. Das Telefon lief heiss und unsere Köpfe auch.»
Die chronische Überlastung vor Ort entspannte sich mit der Digitalisierung um die Jahrtausendwende. 1997 hatte die Jugendwohnhilfe den ersten Internetauftritt und eine Mailadresse, über die fortan auch Nachfragen und Anmeldungen gemacht wurden. 2003 etablierte sich das Online-Anmeldeformular für Mieter:innen, das administrative Arbeiten durch die Zeitersparnis des Übertragens von Daten erleichterte.
Der erste Internetauftritt der Jugendwohnhilfe,
der 1997 aufgeschaltet wurde.
Bild: Jahresbericht 1997
Einschneidend war 1999 der Rücktritt von Sigi Feigel, der dem Verein Jugendwohnhilfe nicht nur als Präsident und Stiftungsrat der ersten Stunde vorgestanden war. Er war Initiator der Jugendwohnhilfe gewesen und hatte den Verein durch seine Persönlichkeit geprägt (JUWO History-Blog Beitrag 1). An seine Stelle trat Jean-Marc Hensch, der seit der Gründung der Jungendwohnhilfe eng mit Sigi Feigel zusammengearbeitet hatte und der den Verein und die Stiftung bis heute präsidiert (JUWO History-Blog Beitrag 2). Die Geschäftsstelle, die sich bis dahin in Sigi Feigels Kanzlei befunden hatte, wurde nach dessen Ausscheiden verlegt.
Nicht nur im Vorstand des Vereins für Jugendwohnhilfe hatte ein Wechsel stattgefunden- Auch in der Verwaltung entschied man sich für grundlegende Veränderungen. Die Qualität des externen Dienstleisters in der Immobilienverwaltung war nicht mehr ausreichend. Und so entschied der Vorstand sich 2001 für einen Wechsel des Anbieters. Im gleichen Zug schaffte die Jugendwohnhilfe die Mieterkautionskonti ab, da bei Auflösung oft kaum zu eruieren war, welche Summe welchen Bewohner:innen zustanden.
Sowohl die Jugendwohnhilfe als auch der VZJW stellten Ende der 1990er-Jahre eine Stagnation oder gar Abnahme bei den Mietverhältnissen fest, zudem verstärkte sich die Wohnungsknappheit erneut. In der angespannten Situation nahmen die beiden Vereine Gespräche auf: Der VZJW war wesentlich kleiner als die Jugendwohnhilfe, 1999 bewirtschaftete er 66 Mietobjekte, während es bei der Jugendwohnhilfe 332 waren. «Alle in unserem Vorstand spürten, dass wir immerzu an Grenzen stiessen», meinte das damalige Vorstandsmitglied des VZJW, Michael Lüthi. Der Verein litt unter personellen und organisatorischen Engpässen. Auch die Jugendwohnhilfe sah die Vorteile einer verstärkten Zusammenarbeit.
Und so kam es, dass Vertreter:innen beider Vereine 2001 nach einer Lösung suchten. Jean-Marc Hensch erinnert sich: «Nadine Zimmermann, damalige Präsidentin des VZJW, und ich trafen uns zu einem Lunch in der Brasserie Lipp. Auf einer Papierserviette haben wir den Zusammenschluss skizziert, der dann tatsächlich auch so umgesetzt wurde.» Die Vereine, die fast zwei Jahrzehnte in «Konkurrenz» gestanden hatten und innerhalb derer die – vor allem weltanschaulichen – Unterschiede in Abgrenzung voneinander betont wurden, mussten nach einem längeren Prozess feststellen: Wir haben doch viele Gemeinsamkeiten und können zusammen den weiteren Weg gehen. 2002 wurde der Zusammenschluss für das folgende Jahr beschlossen. Nach 20 Jahren Existenz fusionierten beide Vereine zum Jugendwohnnetz.