Die multimediale Zeitreise

multimediale Zeitreise

2003 - heute

Beitrag Nr. 17


BEITRAG VON DR. RUTH WIEDERKEHR

«Zwischen Wohnungsmarkt und Sozialbereich»: das JUWO im wohnraumknappen Zürich

Wo Wohlstand und Bevölkerung wachsen, steigen die Mieten. Dies stellt besonders finanzschwächere Menschen vor Probleme. Wohnforscherin Marie Glaser kennt sich aus im Feld der Wohnraumknappheit. Ein Gespräch über das Wohnen in der Stadt Zürich und die Funktion des JUWO.

Marie Glaser, Wohnforscherin, Leiterin Bereich Grundlagen im Bundesamt für Wohnungswesen

Video: Ruth Wiederkehr

Beim Wohnen gibt es eine Reihe von gegenläufigen Interessen. Etwa: Häuser und Wohnungen sollen qualitätsvoll gebaut und nachhaltig geheizt sein. Aber das Wohnen darin darf nicht zu viel kosten. Oder: Arbeits- und Studienplätze sollen nahe beim Wohnort liegen. Und dennoch geräumig und bezahlbar sein. «Diese Zielkonflikte gilt es zu beschreiben», sagt Marie Glaser. Die promovierte Wohnforscherin leitet den Bereich Grundlagen Wohnen und Immobilien beim Bundesamt für Wohnungswesen (BWO). Mit dem Beschrieb der Friktionen sei es aber noch nicht getan: «Unsere Aufgabe ist es, Grundlagen aufzubereiten, Problemfelder zu beschreiben, Lösungswege und Handlungsachsen aufzuzeigen.» 


Raumbedarf wächst

Die urbanen Räume und Agglomerationen in der Schweiz stehen unter besonderer Beobachtung des BWO. Hier wächst die Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner, bedingt durch die politisch geförderte Attraktivität der Wirtschaftsstandorte. Gleichzeitig steigt der Verbrauch an Wohnfläche bei wiederum gleichzeitiger beschränkter Siedlungsfläche und geltenden Bauvorschriften. Im Klartext: Wir wohnen auf mehr Raum, als wir dies vor noch zwanzig Jahren getan haben und die Zahl der Kleinhaushalte wird immer grösser. «Aus diesen Gründen bleiben die Mieter:innen in ihren Wohnungen, auch wenn diese eigentlich nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen und entweder zu gross oder zu klein geworden sind», sagt Marie Glaser. Hinzu komme, ergänzt sie, dass die Mieten und Preise im Angebotsmarkt stark gestiegen sind. Und ab Oktober werden auch im Bestand die Mieten teurer werden, denn im Juni wurde der Referenzzinssatz erhöht.


Verdrängung aus der Stadt

Gebaut wird nicht im gleichen Mass, wie es der Bedarf erfordert. Gemäss Marie Glaser kommt gerade der preisgünstige und gemeinnützige Wohnungsbau an Grenzen, da der Marktpreis für den Grundstückserwerb oftmals viel zu hoch ist. «Diese Wohnraumknappheit trifft zuerst die verschiedenen einkommensschwächeren Gruppen», sagt Glaser mit Blick auf Zürich. Dazu gehörten ältere Menschen oder Familien mit kleinem Budget, Ein-Eltern-Familien, Familien mit Migrationserfahrung sowie Personen in Ausbildung. Baugenossenschaften mit verhältnismässig niedrigen Mieten können den Bedarf an günstigem Wohnraum nicht decken. 

Eine Studie der ETH Zürich konnte kürzlich aufzeigen, dass Personen mit tiefem Einkommen im Kanton Zürich überdurchschnittlich häufig den Wohnort wechseln beziehungsweise verdrängt werden, wenn ein Haus renoviert oder neu gebaut wird. Besonders an zentralen, gut erreichbaren Lagen in der Stadt Zürich steigen die Mietkosten durch Renovation oder Ersatzneubauten, stellte die Forschungsgruppe rund um den Raumentwicklungsprofessor David Kaufmann fest. Diese Wohnraumknappheit wird sich in naher Zukunft kaum abschwächen, ist Glaser überzeugt. «Die Tendenz zum Homeoffice zum Beispiel führt zu einem weiteren Wachstum beim Bedarf an Wohnfläche, weil viele Leute gerne ein weiteres Arbeitszimmer hätten.» Zudem werde die Verdichtung nach innen, die im Raumplanungsgesetz im Sinne der nachhaltigen Entwicklung vorgeschrieben ist, oft blockiert. Einsprachen oder Lärmvorschriften verunmöglichen manchmal das notwendige verdichtete Bauen.


JUWO als Vermittlerin

Organisationen, die sich für finanzschwächere Gruppen wie Lernende und Studierende einsetzen, haben daher in der Mangelsituation eine wichtige Funktion. «Das JUWO ist eine dieser Organisationen», sagt Glaser. Sie trete als Eigentümerin oder Zwischenvermieterin auf und vermittle einer der von der Knappheit betroffenen Gruppe, den Lernenden und Studierenden, bezahlbaren Wohnraum und sorge mit den Sozialberatungen auch dafür, dass junge Menschen eine Chance auf Wohnen in der Stadt erhalten. 

«Das JUWO arbeitet zwischen dem Wohnungsmarkt und dem Sozialbereich», resümiert Glaser. Diese Funktion als Vermittlerin hat ihren Anfang in den Jugendunruhen der beginnenden 1980er-Jahre und sei daher, so Glaser, wohl auch typisch zürcherisch. Sie freut sich, dass JUWO sich über die Jahre professionalisiert und vergrössert hat, weist aber ebenfalls auf die seit Jahren bestehende typisch zürcherische Situation der Wohnraumknappheit hin: «Sie macht das JUWO notwendig.»


Portrait Marie Glaser

Marie Glaser studierte Europäische Kulturwissenschaft und Literaturwissenschaft in München, Wien und den USA. Zwischen 2004 und 2021 forschte sie als Projektleiterin am «ETH Wohnforum – ETH CASE», dem sie 2015 bis 2022 auch vorstand. Seit 2022 ist sie Leiterin des Bereichs Grundlagen Wohnen und Immobilien beim Bundesamt für Wohnungswesen BWO. 

Sie ist ausserdem Stiftungsrätin bei der Stiftung SAWIA für Alterswohnen und
bei der Stiftung Domicil. Die Stiftung vermittelt Wohnraum an benachteiligte Menschen.